Kapitel 2

geschrieben von Darknezz

Notiz:

Der Inhalt dieses Kapitels wurde vor 10 Jahren verfasst und seither nicht verändert. Der Schreibstil könnte sich im weiteren Verlauf der Geschichte verändern.

Cheyennes Gedanken sind kursiv.

Verzweifelte Hoffnung

Unverständliche Geheimnisse

Laboratorium, Nordöstliche Ebenen von Luminastrelle

             Cheyenne trieb ihr Pferd zu Höchstleistungen an und steuerte auf das Stadttor zu. Die beiden Soldaten waren gerade dabei es für die Nacht zu schließen, sodass niemand hinein, oder hinaus konnte. Eine unnötige Sicherheitsmaßnahme des unfähigen Königs. Darauf konnte sie nun wirklich keine Rücksicht mehr nehmen. Ohne das Tempo zu verringern kamen sie dem Tor immer näher und als die Soldaten bemerkten, dass Falconheart sie gleich umwerfen würde, sprangen sie zur Seite und machten ihr den Weg frei. Sobald Cheyenne durchs Tor geritten war, lenkte sie den Hengst nach rechts und schlug somit eine nördliche Richtung ein. Sie blickte nach hinten, um zu sehen, wo Adocaz war. Der Feenwolf lief dicht hinter ihnen her, aber er schien nicht der einzige zu sein. Einige Meter hinter ihm sah das Mädchen ein helles Pferd galoppieren, es war sehr schnell und trug einen blonden Reiter. Xaver… Es dauerte nicht lange bis er sie eingeholt hatte und neben Falconheart ritt. Shiva, die Stute von Xaver, war ein wenig schneller als der braune Hengst und kleiner. Sie besaß ebenfalls fühlerähnliche Strähnen in ihrer langen Mähne, jedoch waren die ihren pink. Genauso wie Cheyennes Pferd, war Shiva aus einem Forschungslabor, aber ihr sah man es mehr an als Falconheart. Sie hatte keine gewöhnliche Fellfarbe. In dem Labor wurde zugunsten der Ritterschaft geforscht und diese, die auch gerne Lichtritter genannt wurden, haben sich eine Farbe angeeignet, die den Namen ‚Weiß‘ trägt. Es ranken sich Legenden und Gerüchte darüber und in der Unterstadt wurde sie auch ‚die verbotene Farbe‘ genannt. Das war gar nicht mal so übertrieben, denn Weiß ist eine künstlich hergestellte Farbe, die in der Natur von Terrenox Libertia nicht vorkam. Kurioserweise allerdings gab es eine einzige Stelle, an der sie vorhanden war: im Glaskörper der menschlichen Augen, was sich niemand in der Unterstadt erklären konnte. In dem Labor wurde damals viel mit dieser Farbe geforscht und sie wurde zum Markenzeichen der Ritter. Vor allem wollten sie auch weiße Pferde haben, damit jeder gleich erkannte, wen er vor sich stehen hatte. Shiva war ein solches Pferd, allerdings lief, wie so oft bei diesen Experimenten, etwas schief und die Ritter des Lichts wollten keine Pferde, die nicht reines Weiß als Fellfarbe hatten. Heute haben die meisten von ihnen Pferde, die die verbotene Farbe trugen, genmanipuliert und verurteilt zu einem kurzen Leben. Xavers Stute würde auch nie die Lebenserwartungen normaler Pferde erfüllen, aber sie hatte gute Chancen, zumindest länger als die anderen Reittiere der Ritter zu leben. Falconhearts Experiment ging ebenfalls schief, denn sein Körper nahm die verbotene Farbe nicht an. So wurden beide Pferde zum Tode verurteilt. Sie hatten Glück gehabt, dass Cheyenne und Xaver damals oft die Pferde im Forschungslabor besucht und gestreichelt hatten und mitbekamen, was mit Falconheart und Shiva passieren sollte. Also haben die zwei Freunde in einer Nacht und Nebel Aktion die beiden Vierbeiner befreit und seitdem waren die Pferde immer an ihrer Seite. Die Ritter der Lichts hielten es damals nicht für notwendig sie zu verfolgen, oder sich die Tiere wiederzubeschaffen. Das Einzige, was sie taten, war, das Labor nun für die Öffentlichkeit zu verschließen. Einige Zeit danach wurde auch das Stadttor und der Hochspannungszaun um Excdioma Magna erbaut. Ab diesem Zeitpunkt haben sie angefangen, nicht nur mit Tieren, sondern auch mit Menschen zu experimentieren. Viele Leute, die ihre Steuern nicht mehr zahlen konnten, wurden nicht mehr sofort enthauptet, sondern zu dem Labor gebracht. In der Unterstadt wurde die Forschungsstation daher auch oft Menschenfarm genannt. Man hörte die grausamsten Dinge über sie. Noch nie ist jemand von dort zurückgekehrt. Und genau zu diesem Labor sind nun Cheyennes Großeltern gebracht worden.

            „Xaver, was machst du hier?“ Doch anstatt Cheyennes Frage zu beantworten, ließ er Shiva vor Falconheart laufen und schnitt ihm den Weg ab. Dann brachte er seine Stute abrupt zum Stillstand. Der braune Hengst konnte nicht anders, als eine Vollbremsung hinzulegen und ebenfalls stehen zu bleiben. Das Mädchen fiel nach vorne auf den Hals ihres Pferdes und raffte sich wieder auf. Beide Pferde tänzelten und waren verwirrt über den plötzlichen Geschwindigkeitsverlust. Shiva stellte sich auf die Hinterbeine und wieherte kräftig und schrill. Als Antwort bekam sie von Falconheart ein empörtes Schnauben.

            „Bist du verrückt geworden?! Was soll das?“ Cheyenne kniff die Augen zusammen und schaute Xaver wütend an. „Ich musste dir den Weg abschneiden, andernfalls wärst du doch nie stehen geblieben.“ Er versuchte die Situation in den Griff zu bekommen. Seine Freundin musste unbedingt ruhiger werden. Aber sie dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen. „Ich hab keine Zeit für sowas und das weißt du! Lass mich sofort vorbei. Wenn ich wegen dir zu spät komme, werde ich dir das nie verzeihen!“ „Cheyenne, komm mal wieder runter. Denkst du wirklich du kannst sie retten, wenn du planlos und ohne jegliche Vorsicht dahin reitest? Glaubst du etwa die werden dich da hineinspazieren lassen und mal eben so ganz nebenbei zusehen, wie ihre Testpersonen befreit werden? Bist du wirklich so naiv?“ Das Mädchen wandte geknickt ihren Kopf ab und sah dann zu Boden. „Nein… Aber was soll ich denn sonst machen? Wenn du eine bessere Idee hast, dann sag sie mir doch!“

            Ein paar Sekunden herrschte betretenes Schweigen auf beiden Seiten. Das Einzige, was zu hören war, war das Hecheln des Feenwolfs und das Schnauben der Pferde. Xaver ergriff als erster wieder das Wort. „Ich… Hör mal, ich weiß wie sehr du dir wünscht, deine Großeltern retten zu können, aber siehst du nicht… dass die Situation … ziemlich hoffnungslos ist?“ Cheyenne starrte ihn traurig an, ehe sie ebenfalls etwas sagte. „Mir wurde beigebracht, dass man die Hoffnung nie aufgeben soll. Es gibt immer einen Weg. Es mag schwer sein, die beiden zu befreien, aber wenn ich nur genug daran glaube und nicht aufgebe, kann ich es schaffen.“ Sie war überrascht wie überzeugend und kräftig ihre Stimme klang. Xaver betrachtete sie ernst und nickte dann. „Also schön… Ich kann dich wohl nicht davon abbringen, aber dann lass mich wenigstens mit dir mitkommen, in Ordnung?“ Cheyenne war einverstanden, auch wenn sie sich ein wenig sorgte. Es war zwar gut, Xaver dabei zu haben, sie war nicht allein und fühlte sich wohl in seiner Gegenwart, aber gleichzeitig machte sie sich genau deswegen auch Gedanken.Hoffentlich schaffen wir das irgendwie und können Großvater und Großmutter retten. Aber ich bringe ihn richtig in Gefahr, allerdings ist er genauso stur wie ich und hätte es sich nicht nehmen lassen mich zu begleiten. Mit ihm zu diskutieren hätte nur Zeit gekostet. Außerdem behält er immer einen kühlen Kopf, egal in welcher Situation, er kann immer so klar denken und das ist dort sicher notwendig. Und wenn wir zu zweit sind, ist es sicher besser als allein. Zudem gibt er mir Sicherheit und ich fühl mich immer besser, wenn er in der Nähe ist…

            Cheyenne und Xaver ritten im leichten Galopp Seite an Seite weiter. Der Regen fiel weiterhin gnadenlos auf sie herab und der Wind brachte das Gras zum Rascheln. Der helle Schein von Excidoma Magna, der bisher den Weg sichtbar gemacht hatte, verblasste langsam. „Ich seh fast gar nichts mehr… Es ist viel zu dunkel. Ich kann nur mehr deine Umrisse und die der Pferde erkennen. Vor allem Shiva. Ihre helle Farbe sieht man sogar nachts meterweit.“ Xaver bereute den unüberlegten Aufbruch sehr. Er hätte doch seine Taschenchromalampe mitnehmen sollen. „Ich kann genug sehen. Echt komisch, dass ihr nachts blind wie ein Maulwurf seid. Das kann ich mir gar nicht vorstellen… Naja, du hörst mich und das Hufgetrappel sicher, also weißt du, wo ich bin. Gut, dass ich noch weiß, wo das Labor ist, hm?“ Cheyenne fand es wirklich schade, dass ihr Freund die Schönheit der Nacht nicht wahrnahm. Die Ebenen auf denen sie zurzeit ritten waren in ein schönes Schwarz getaucht, das in der Nähe heller als in der Ferne war. Das Gras war unterschiedlich hoch, weiter weg sah sie den Waldbeginn. Der Regen machte es allerdings wirklich nicht leicht, so weit zu sehen. Xaver seufzte. „Blind wie ein Maulwurf? Ich würde zu gerne wissen, wie du nachts sehen kannst… Ich tu mir schon schwer damit, meine eigene Hand vor Augen zu sehen.“ Seine Stimme klang traurig und war voller Sehnsucht. Er wollte so gern auch im Dunkeln gut sehen, wusste aber bestimmt, dass es nie können würde. Er schüttelte den Kopf und verwarf so seine Gedanken.

            Eine Weile schwiegen sie und Cheyenne musste wieder an ihre Großeltern denken. Sie hoffte so sehr, dass sie noch lebten und sie die zwei retten können würde. Ihre Gedanken wurden unterbrochen, denn in der Ferne konnte sie ein Leuchten ausmachen. Allerdings war es gar nicht so weit entfernt und die zwei Freunde stoppten ihre Pferde. Adocaz legte sich ins nasse Gras und beobachtete ebenfalls den hellen Schein.

            Das Schimmern kam von einem großen fabrikähnlichen Gebäude und schien dort die Nacht zu erhellen. Allerdings war es kein Chromaleuchten, sondern weißes Leuchten. Dieses Gebäude war zweifelsfrei das Laboratorium, aus welchem Falconheart und Shiva kamen und wo Cheyennes Großeltern festgehalten wurden. „Ist das… Aber ich dachte das gäbe es nur im Adelsviertel der Hauptstadt?“ Cheyenne war verunsichert über den Anblick des unnatürlichen Scheins. Xaver starrte ebenfalls auf die Farbe, in welche das Gebäude getaucht war. „Ja, du hast Recht, es sieht aus wie die Lampen im Adelsbereich, aber ich dachte, die wären speziell auf Wunsch der Reichen angefertigt worden. Ich habe gehört, damit wollen sie ihre Loyalität dem König gegenüber zeigen. Aber warum sollten sie es hier auch verwenden? Chromalampen scheinen doch viel weiter, als dieses Licht.“ Cheyenne zuckte bei seinem letzten Wort zusammen und sah ihn böse an. „Wie kannst du es wagen das verbotene Wort in den Mund zu nehmen?!“ In der Unterstadt verband man das Wort ‚Licht‘ mit den Rittern und mit Unheil, deswegen wurde es nie ausgesprochen und verboten. Kinder lernten dort schon Geburt an, dass man dieses Wort nie sagen sollte. Wenn sie es trotzdem taten, bekamen sie eine kleine Strafe, damit sie denselben Fehler nicht nochmal begehen würden. Xaver wusste, dass seine Freundin Recht hatte und ließ sich einschüchtern. „Oh ja, stimmt… Aber ich habe gehört, wie ein paar Ritter die weißen Lampen in den Straßenlaternen so genannt haben.“ Cheyenne seufzte und betrachtete die Lampen genauer. Sie sahen aus wie die Flutchromalampen auf dem Marktplatz der Hauptstadt. Das waren besondere Lampen, die größere Chromafragmente beinhalteten, viel weiter und heller leuchteten, als normale Chromastraßenlaternen. Nur dass diese Lampen hier ein weißes Leuchten abgaben, das enorm hell war, aber nicht weit reichte. Chromaschein reichte sehr weit, hingegen strahlte dieses ‚Licht‘ nur einige Meter. Auch waren es keine Fragmente, sondern Glasgefäße mit irgendeinem Gerät, welches den Schein erzeugte.

Je länger Cheyenne die großen Lampen betrachtete, desto mehr schmerzten ihre Augen. Sie fühlte sich nicht mehr gut und bekam sogar Kopfschmerzen. Chromaleuchten konnte sie stundenlang ansehen, ohne dass sie sich in irgendeiner Weise schlecht fühlte. Xaver schien auch langsam etwas zu spüren, denn seine Augen fingen an zu tränen und er blinzelte oft. Dann schüttelte er den Kopf. „Dieses Licht ist ja schrecklich.“ „Das kannst du laut sagen, meine Augen brennen wie Feuer…“ Cheyenne wandte den Blick von den Lampen ab und rieb sich die Augen. 
         Die beiden ritten weiter. Einige große Felsbrocken umgaben die Farm und Cheyenne und Xaver beschlossen die Pferde hinter einem von ihnen zu verstecken. Adocaz schlich wie eine Katze langsam näher ans Labor. Die zwei Freunde dicht hinter ihm. Das Gebäude war riesig und umgeben von in sich abgetrennten Zäunen. Sie sahen fast aus, wie Gehege und in einigen davon befanden sich Menschen und auch Kreaturen, die die beiden noch nie zuvor gesehen hatten. Der Eingang war durch ein riesiges Tor und einem darauffolgenden, durchsichtigen Tunnel gekennzeichnet. Eine enorm große, dreieckige Mauer mit Sendern an der Spitze ragte in den Himmel. Dahinter befanden sich zwei unterschiedlich großflächige, hohe Hallen, die ebenfalls von einer großen pyramidenförmigen Mauer getrennt waren. Das Gebäude hinter den Trennmauern war größer, als das dazwischen und von ihm gingen die Gehege aus. Der Eingang wurde von drei Rittern bewacht. 

Es hat sich einiges verändert, seit wir das letzte Mal hier waren…  „Ich würde mal vermuten, dass sie in der großen Halle ihre Testpersonen festhalten. Das bedeutet, wir müssen durch den ganzen Komplex laufen, aber ohne, dass uns jemand entdeckt. Das dürfte sich als schwierig erweisen…“ Xaver musterte das gesamte Gebäude und ließ seinen Blick dann besorgt auf dem Eingang ruhen. „Diese Soldaten sehen auch nicht gerade freundlich aus. Sie werden uns nicht einfach hineinspazieren lassen…“ Noch während er zu Ende sprach, erhob sich Cheyenne aus der Hocke und lief zu den Pferden zurück. Aus ihrer Satteltasche kramte sie einen schwarzen, breiten Gürtel und legte ihn an. Dann nahm sie den aufklappbaren Bogen und befestigte ihn an der dafür vorgesehenen Schlinge, die das Mädchen eigens angenäht hatte. So musste es das Kampfwerkzeug nicht ständig in der Hand halten, konnte es aber trotzdem bei sich haben. Cheyenne ging zurück zu Xaver. Er besaß ebenfalls einen Gürtel und hatte diesen bereits umgeschnallt. So wie sie selbst, nähte auch er damals eine Befestigungsmöglichkeit für sein altes, zerkratztes Schwert an. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie beide am Küchentisch seiner Mutter saßen und ihr Bestes gaben, um aus den einfachen Gürteln richtige Waffengürtel zu machen. Lange hatte es gedauert, bis die Schlingen tatsächlich ihre Waffen halten konnten, anstatt sie durchfallen zu lassen. Aber als es schließlich geklappt hatte, waren die Freunde sehr stolz und glücklich darüber gewesen. Bis heute haben die selbstgebastelten Kampfgürtel ihren Zweck erfüllt und es gab keine Anzeichen, die darauf schließen ließen, dass die Schlingen reißen, oder abgehen würden.

„Was hast du vor?“ Xaver beobachtete seine Freundin, wie sie den Bogen aufklappte und in die Richtung der Soldaten zielte. „Ich lenke sie ab, damit wir unbemerkt an dieses Eingangstor kommen. Oder willst du zu denen gehen und fragen, ob es ihnen was ausmacht, wenn wir kurz da hineingehen und ihnen zwei Testpersonen entziehen?“ Ohne den Blick von ihrem anvisierten Ziel abzuwenden, neckte Cheyenne ihren Begleiter mit dem letzten Satz, den er vor einigen Minuten ebenfalls zu ihr gesagt hatte und wartete auf dessen Antwort. Dieser sagte jedoch nichts darauf und sie betrachtete das als ein ‚Nein‘.

Sie konzentrierte sich, so gut es ihre momentane Situation zuließ und schoss den schwarzen Pfeil einige Meter des Eingangs entfernt ins Gras. Die Stelle befand sich gerade noch so im Schein der weißen Flutlampe, sodass die Ritter nachschauen mussten, um genaueres erkennen zu können. Die Freunde hofften, dass die drei Wächter den Pfeil gesehen hatten, denn der Regen prasselte viel zu laut auf den metallenen Gebäudekomplex, als dass man den Zerriss der Luft beim Flug oder den Aufprall des dunklen Gegenstandes gehört hätte.

Die Ritter schienen tatsächlich etwas bemerkt zu haben - es sah aus, als berieten sie sich was zu tun war. Allerdings schienen sie es nicht für wichtig genug zu halten, um ihren Posten zu verlassen. Adocaz blickte kurz in die Richtung, wo die beiden Freunde hinter dem Felsen hockten und trabte dann los, in die Richtung, wo der Pfeil niedergegangen war. Dort bellte er und erregte so die volle Aufmerksamkeit der Wachen. Zwei von ihnen bewegten sich langsam auf ihn zu, um nachzusehen. Der eine zog sein Schwert aus dessen Scheide und hielt es bedrohlich zur Seite, bereit zum Angriff. Der andere ging etwas hinter seinem Kollegen und ließ die Hand auf dem Schwertgriff ruhen.

Cheyenne überlegte nicht lange und lief los. Das Gras war nass und rutschig und beinahe wäre sie hingefallen. Xaver, der von der überstürzten, unvernünftigen und planlosen Aktion seiner Freundin verdutzt und verärgert war, blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterherzulaufen. Sie lief geradewegs auf den Eingang des Gebäudes zu und hoffte, dass der dritte, etwas seitlich stehende Wächter weiterhin seine Kollegen beobachtete und sie nicht bemerkte. Doch als sie versuchte das Tor zu öffnen, es sich aber keinen Zentimeter bewegte, drehte sich der Ritter um und entdeckte sie. Er kam auf Cheyenne zu und zog sein Schwert. Der Wächter war ziemlich groß und seine Rüstung glänzte Silber und Weiß im hellen Schein der Flutlampe. Er knurrte wie ein Hund und das Mädchen starrte ihn an. Ihr Herz raste und sie bekam es mit der Angst zu tun. Sie schnappte nach Luft, sah dass sie ihm nicht ausweichen und weglaufen könnte und wandte sich dem Eingangstor zu. Verzweifelt versuchte sie es zu öffnen, die einzige Möglichkeit dem Ritter zu entkommen, war, durch dieses Tor ins Innere des Gebäudes zu flüchten. Doch die riesige Metalltür ließ sich einfach nicht öffnen und Cheyenne spürte, wie der Mann in Rüstung sie an der Taille packte. Dann umgriff er ihren Körper an dieser Stelle mit einem Arm fest, mit der anderen Hand hielt er ihr sein Schwert an den Hals und drückte an, sodass sie keine Luft mehr bekam. Cheyenne zitterte und rang nach Atem, durfte sich aber nicht zu sehr bewegen, denn dann würde ihr dieses scharfe Schwert in den Hals schneiden. Sie fühlte stechenden Schmerz und den starken Griff des Ritters, der ihr ebenfalls zusetzte. Lange würde sie unter diesen Bedienungen nicht mehr stehen können, aber sie musste durchhalten. Die scharfe, kalte Klinge wurde von dem Wächter langsam bewegt und sie fühlte Blut an ihrem Hals hinunterfließen. Sie spürte den warmen Atem ihres Feindes im Nacken, als er anfing leise zu lachen. Verzweifelt versuchte Cheyenne das Schwert mit ihren Händen von ihrem Hals zu entfernen, mit dem Ergebnis, dass sie ihre Hände aufschlitzte und die Klinge nur noch fester einschnitt. Trotzdem sah sie in dieser Methode die einzige Chance um sich zu befreien und versuchte es weiter. Die Schmerzen waren unerträglich und am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, aber das einzige, was ihre Stimme hergab, waren einige heisere, glucksende Töne. Cheyenne fühlte ihren Herzschlag in ihrem Hals pochen und ihre Sicht wurde unklar und verschwommen. Sie fühlte sich schwach. Lass mich los… Ich kann jetzt nicht aufgeben… Ich muss durchhalten und… Ich muss sie retten…

Ihre Beine waren kurz davor einzuknicken, als sie plötzlich ein dumpfes Geräusch hörte und der Ritter von ihr abließ. Cheyenne fiel auf die Knie und rang nach Luft. Ihre Augen tränten, ihr Herz drohte zu zerspringen, sie zitterte wie verrückt und die Wunde an ihrem Hals schmerzte, aber irgendwie hatte der Wächter sie losgelassen. Sie drehte sich um und sah Xaver mit seinem Schwert hinter dem nun am Boden liegenden Ritter stehen. Der Mann in Rüstung war nicht tot, denn er atmete noch und stöhnte etwas. Er schien nur ohnmächtig zu sein. Das Mädchen konnte zwar sehen, dass ihr Freund verärgert war, aber seine Sorge überwiegte dennoch beträchtlich. Er eilte auf sie zu kniete sich zu Cheyenne herab. „Warum hast du mir nicht gesagt, wann du losläufst? Das hätte ziemlich schlimm enden können, wie kann man nur so unvernünftig…“ Ohne den Satz zu Ende zu sprechen, seufzte er und schloss kurz die Augen um sich wieder zu sammeln und einen klaren Kopf zu bekommen. „Geht es dir gut? Dieser Schnitt muss sehr wehtun, hm? Tut mir leid, dass ich dich nicht schneller befreien konnte, aber bis ich realisiert hatte, dass du losgelaufen bist und ich dir hinterher konnte, vergingen schon mal ein paar Sekunden. Und du kannst wirklich schnell rennen, weißt du das?“ Seine Reaktion war verständlich, schließlich hatte er sich Sorgen um Cheyenne gemacht. Wenn er jetzt nicht da gewesen wäre… dann… hätte mich der Typ da sicher umgebracht…

„Xaver… Danke…“ Langsam konnte sie wieder normal atmen und sah ihren Freund reuevoll an. Dessen strenger und besorgter Blick entspannte sich ein wenig und er betrachtete ihre Wunde. Das Mädchen legte vorsichtig ihre Hand darauf und zuckte vor Schmerz zusammen. Dann sah sie sich ihre Finger an und musterte das Blut, das nun darauf klebte. „Mir geht’s gut, mach dir keine Sorgen. Überleg dir lieber, wie wir schnell diese Tür öffnen können. Sie bewegt sich keinen Zentimeter… Und die zwei anderen Ritter werden auch gleich wieder da sein…“ Cheyenne strich mit der blutigen Hand über den Boden, um die rote Flüssigkeit abzuwischen und zuckte erneut zusammen. Ah… Ich hatte vergessen, dass ich mir am Schwert des Wächters die Hände geschnitten hab. Der feuchte Erdboden brachte Schmutz in ihre Wunden und dies schmerzte sie. Das Mädchen stand wankend auf und versuchte ihr Gleichgewicht zu finden. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder sicher stehen konnte. Immer noch fiel der Regen unerbittlich vom Himmel herab. Cheyenne öffnete die Handflächen und ließ das kalte Wasser darauf prasseln. Es brannte zwar wie verrückt, aber immerhin reinigte es ihre Wunden.

Xaver ging indessen zu dem ohnmächtigen Ritter und durchsuchte seine Rüstung. Cheyenne beobachtete sein Vorgehen neugierig. „Was machst du da?“ Ohne sich zu ihr umzudrehen oder zu antworten, suchte er weiter und fand schließlich am Handgelenk des Ritters ein Metall-Armband mit einem runden, glänzenden Plättchen darauf. Er stand auf und musterte es genauer. „Siehst du die Vorrichtung neben dem Eingangstor?“ Xaver bewegte sich darauf zu und Cheyennes Blick folgte ihm. „Ich denke, dass sich diese Tür so lange nicht öffnen wird, bis wir diesen roten Chip dort einscannen.“

Das Mädchen legte den Kopf schief und hoffte, dass er Recht behalten würde. Hm, warum ist mir das nicht aufgefallen…  Xavers Freundin bewunderte seine schnelle Auffassungsgabe. Der Junge scannte den Chip ohne Probleme ein und ein ‚Piep‘-Geräusch ertönte. Es war fast so, als hätte er das schon öfters gemacht. Die riesige Metalltür öffnete sich und die zwei Freunde traten ein. Sobald sie durch das Tor gegangen waren, schloss es sich auch wieder; genau zum richtigen Zeitpunkt, denn Cheyenne konnte die beiden Wachen zurückkommen hören.

Sie seufzte erleichtert auf, ebenso Xaver.Das war wirklich knapp.  Die Freunde schauten sich um. Vor ihnen erstreckte sich ein langer, großer Tunnel, dessen Boden aus Glas war. Darunter zuckten weiße Blitze und erhellten den Weg. Weit und breit waren keine Ritter zu sehen und so setzten sich die beiden in Bewegung. Während sie über den Glasboden gingen, fiel Cheyenne auf, dass die Tür am Ende des Tunnels ebenfalls eine Scanvorrichtung hatte. „Xaver, wie hast du so schnell herausgefunden, wie die Tür zu öffnen ist? Das war ja wirklich beeindruckend.“ Er blickte verlegen zur Seite und wurde ein wenig rot. „Ach das… Das war doch gar nichts… Ich glaube, in solchen Situationen, wie gerade eben, kann ich einfach sehr schnell denken, verstehst du? Ich hab dieses Lob doch nicht verdient.“ Er lächelte Cheyenne an. „Doch, du hast es verdient. Ich hoffe, ich kann in Zukunft auch so schnell denken.“ Sie wollte sein Lächeln erwidern, konnte es aber angesichts der Situation nicht. Stattdessen seufzte sie und ging schneller.

Xaver öffnete auch die Tür am Ende des Tunnels und sie betraten eine riesige Halle. Die Wände waren aus Metall, angestrahlt von unzähligen weißen Lampen. In der Mitte des Raums befand sich ein Aufzug, der die Menschen vermutlich auf die zwei höheren Stockwerke über den Köpfen der Freunde brachte. Cheyenne hatte noch nie zuvor so viele Türen in einem Raum gesehen, wie hier. Sie waren alle gleich, bis auf eine: Ein großes Tor hinter dem Aufzug. In großen Buchstaben stand darauf geschrieben:

 

Forschungsbereich

Human- und Animalforschung

Sektoren A – G

Sicherheitsmaßen einhalten

 

„Dort müssen wir hin!“ Cheyenne flüsterte, sie wagte nicht, in dieser großen Halle laut zu sprechen. Ihre Worte würden ziemlich laut von den Metallwänden widerhallen und das würde sicher jemand hören. Allerdings waren die beiden Freunde zurzeit die einzigen in dem großen Raum. „Wie kurios… Ich hatte mir eigentlich gedacht, hier wimmelt es nur so von Forschern und Wachen…“ Xaver sprach ebenfalls sehr leise und ließ seinen Blick besorgt umherschweifen. „Vielleicht schlafen die alle, wer weiß? Aber wir haben keine Zeit uns darüber Gedanken zu machen, komm schon, wir müssen uns beeilen und zum Forschungsbereich gehen!“ Damit beendete Cheyenne die Denkphase ihres Freundes und ging los, Xaver an der Hand hinter sich herzerrend.  Es ist ziemlich kalt hier drin… Wärmt dieses weiße … Licht… denn nicht? Chromaleuchten würde den Raum im Handumdrehen erwärmen…

Plötzlich hörten sich über ihren Köpfen eine Tür. Sie wurde direkt über ihnen geöffnet. Zum Glück standen die Freunde unter dem höheren Stockwerk und würden, wenn sie leise waren nicht entdeckt werden. Wie angewurzelt blieben die beiden stehen und lauschten den Schritten. Eine zweite Tür ging auf und schloss sich wieder, dann kehrte erneut Ruhe in die große Halle ein. Cheyenne und Xaver atmeten erleichtert auf und waren froh, dass sie am Rand der Halle entlanggingen.

Ohne zu reden, schlichen sie zu der großen Metalltür, die in den Forschungskomplex führte. Xaver öffnete das Tor und sie betraten die nächste Halle. Es erbot sich ihnen ein Anblick des Grauens; Der Raum war beträchtlich größer, als der vorhergehende und hatte mehrere Stockwerke. Auf jedem der Ebenen, befanden sich Zwinger, die den Großteil des Komplexes ausmachten. In ihnen tummelten sich halbnackte, abgemagerte Menschen, hier und da waren sogar welche ohne jegliches Gewand. Einige schrien verzweifelt nach Hilfe, weinten in ihrem Schmerz, rüttelten an den Käfigen und manche saßen einfach apathisch in einer Ecke und starrten vor sich hin. In den obersten Ebenen befanden sich Kinder, die nach ihren Müttern riefen. Auf der untersten Ebene, auf jener, wo sich Cheyenne und Xaver befanden, waren nicht nur Menschen in den Gehegen, sondern auch Tiere und sogar Kreaturen, die wie eine Mischung aus beidem aussahen. Die Monster knurrten, fauchten und versuchten die Käfige aufzubrechen, aber jeder Versuch wurde durch einen Stromschlag bestraft. In der Mitte der Halle befand sich der einzig, von weißen Lampen, beleuchtete Bereich. Er zog sich über alle Stockwerke nach oben und war in viele Räume geteilt. Durch Schaufenster konnte man das Vorgehen darin sehen. Menschen, die gewaltsam an Liegen und Stühle gefesselt waren, die operiert wurden oder denen etwas eingeflößt wurde. Sie zappelten und wirbelten wild umher, aber vergebens, sie schafften es nicht sich zu befreien. Auch Tiere waren in den Räumen zu sehen, sie teilten das Schicksal der Menschen. Dieser Bereich musste das Forschungszentrum sein und eine weitere Metalltür schien der Eingang dafür zu sein. Der Geruch von Medikamenten und Blut lag in der Luft. Erst jetzt fielen Cheyenne die verschiedenen Buchstaben auf dem steinernen Boden auf. Vermutlich kennzeichneten sie die verschiedenen Sektoren, wie zuvor auf der großen Metalltür geschrieben stand, durch die sie eben diesen Raum betreten hatten.

Die zwei Freunde standen fassungslos da. So viel Grausamkeit hatten sie nicht erwartet. Xaver blickte zu Boden und schloss die Augen. „Das ist… schrecklich…“ Mehr konnte er nicht mehr sagen und verfiel zurück in die Sprachlosigkeit.

Cheyenne atmete schnell und hatte wieder angefangen zu zittern. Sie lief erneut ohne nachzudenken los und suchte verzweifelt jeden Käfig der unteren Ebene mit ihren Augen ab. Anstatt sie aufzuhalten, begleitete ihr Freund sie. Er schien zu spüren, dass ihre Sorgen um die Großeltern sich soeben drastisch erhöht hatten. Zwischen den Gehegen der verschiedenen Sektoren, befanden sich Gänge, die nach draußen führten. Ich kann sie nirgends sehen, sie sind nicht hier! Was mach ich jetzt nur, was mach ich nur… Ich muss sie finden! Ich muss sie einfach finden!  Einige Male war sie nun schon an den Käfigen der unteren Ebene vorbeigelaufen, konnte aber ihre Großeltern nicht entdecken. Am liebsten hätte sie laut nach ihnen gerufen, wagte es aber nicht. Es würden sofort Ritter kommen und die Freunde entdecken und das Mädchen wollte Xaver nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringen als ohnehin schon. Cheyenne blieb stehen. Sie versuchte erst gar nicht ihre Tränen zurückzuhalten und ließ sie über ihre Wangen kullern. Ihr Freund hatte sie eingeholt und nahm sie in seine Arme. Einige Sekunden standen sie eng umschlungen da.

Plötzlich ertönte ein lautes Geräusch und eine raue Stimme erklang. Sie kam von einem Lautsprecher, der an der Außenseite des Forschungsbereichs angebracht war. „Hier spricht Forscher 137. Die Vorbereitung der Versuchspersonen 278 und 279, heute Nachmittag eingetroffen, 74 und 70 Jahre, wurden soeben abgeschlossen. Ich bitte darum sie von nun an zu überwachen und die Reaktionen auf die Versuche schriftlich festzuhalten. Einer der niederen Forscher soll sich damit beschäftigen und mir dann Bericht erstatten. Die Versuchspersonen befinden sich in Außensektor D, Gehege sieben. Ende der Durchsage.“ Cheyenne löste sich von Xaver, sah ihn voller Hoffnung an, drehte sich um und stürmte in Richtung des Ganges, der zum äußeren Bereich des Sektors D führte. Der Freund folgte ihr unmittelbar und so schnell ihre Beine sie trugen, liefen sie nach draußen.

Es war kaum kälter als im Inneren der Halle, aber es regnete immer noch. Flutlampen befanden sich links und rechts der abgetrennten Gehege und so würde jeder die zwei Freunde ohne Schwierigkeiten entdecken können. Cheyenne war dies im Moment egal, sie vergaß alles um sich herum, denn am Ende des Ganges, umgeben von Gehegen befand sich eines mit der Zahl sieben auf der Eingangstür. Dahinter konnte sie sogar schon ihre Großeltern sehen. Ihr Herz machte einen Sprung und sie lief schneller als je zuvor. Glücksgefühle strömten durch ihren Körper und sie freute sich so sehr, die beiden endlich gefunden zu haben. Cheyenne vergaß den Regen und die Kälte der Nacht und konnte es kaum erwarten ihre geliebten Großeltern wieder in die Arme zu schließen. Sie würde sie retten und alles wäre wieder gut.

Das Eingangstor des Geheges war durch eine Metallkette verschlossen und war nun das Einzige, was der Familienzusammenführung noch im Weg stand. Cheyenne rüttelte daran, aber ohne Erfolg. Xaver zog sein Schwert. „Geh zur Seite und lass mich das mal machen!“ Sie tat, was er ihr gesagt hatte, der Junge hob die zerkratzte Metallwaffe an und schlug die Klinge mit voller Wucht auf die Kette. Sie zersprang mit einem metallenen Klang an der Einschlagstelle und das Schloss fiel zu Boden. Die Tür zum Gehege ging einen Spalt auf, ehe sie von Cheyenne komplett aufgestoßen wurde. Das laute Geräusch hatte die Großeltern aufmerksam gemacht und sie erspähten ungläubig ihre Enkelin. Diese lief weinend auf sie zu und fiel ihnen in die Arme. Ein unglaublich starkes Gefühl des Glücks und der Freude durchströmte das Mädchen und wärmte sie von innen heraus, sodass sie den kalten Regen nicht mehr spürte.

Xaver beobachtete gerührt seine Freundin und deren Großeltern und erleichtert seufzte er auf. Es war schön, dass sie noch am Leben waren. Die zwei älteren Leute trugen durchnässte Lumpen und metallene Arm- und Halsbänder, zitterten vor Kälte, waren blass im Gesicht und sahen sehr krank aus. Die verblassten braunen Haare klebten vor Regen triefend an ihren faltigen Gesichtern. Ihr Zustand machte keinen guten Eindruck und das beunruhigte den Jungen. Womöglich waren sie bereits Versuchen ausgesetzt worden, die eine tödliche Folge mit sich brachten. Aber er schwieg und behielt seine Vermutung für sich.

Cheyennes Großmutter fuhr ihrer Enkelin durch die pitschnassen Haare und hob dann mit ihren Händen den zierlichen Kopf des Mädchens ein Stückchen nach oben, sodass sie sich direkt ansehen konnten. Die alte Dame weinte ebenfalls vor Freude, Verzweiflung und Sorge. Sie flüsterte Cheyenne mit zittriger, rauer Stimme einige Worte zu. „Mädchen, was um alles in der Welt hat dich dazu bewegt hierherzukommen? Das ist doch viel zu gefährlich! Wenn dir nun etwas zugestoßen wäre, hätten sich dein Großvater und ich das nie verziehen. Ach, du meine Güte, was ist denn mit deinem Hals passiert? Kindchen, das muss doch sehr schmerzhaft sein. Was machst du auch für Sachen?“ Die Großmutter sprach sanft und voller Sorge um ihre geliebte Enkelin. Cheyenne bemerkte, wie schwach die alte Dame war. Sie brauchte zwei Anläufe, um schließlich zu antworten und ihre Stimme wiederzufinden. „Es tut mir so leid, dass ich nicht da war, heute Nachmittag, es tut mir so leid, dass ich euch in diese Schwierigkeiten gebracht hab. Es… tut mir so leid!“ Der Großvater strich seiner Enkelin beruhigend über den Kopf und gab ihr zu verstehen, dass er ihr nicht die geringste Schuld an der ganzen Misere gab. Er schien einfach nur froh zu sein, dass es dem Mädchen einigermaßen gut ging. Cheyenne sah den alten Mann zum ersten Mal in ihrem Leben Tränen vergießen.

„Ähm… Leute, ich stör ja nur ungern diese rührende Familienzusammenführung, aber ich denke, wir sollten langsam von hier verschwinden, meint ihr nicht auch? Hier soll immerhin auch gleich ein Forscher auftauchen…“ Xaver meldete sich beunruhigt zu Wort. Jeder in dem Gehege wusste, dass er Recht hatte.

Gerade als sich Cheyenne zu ihrem Freund umdrehte, wurde dieser von hinten zur Seite gestoßen und fiel zu Boden. Wo zuvor noch der blonde Junge gestanden war, befand sich nun ein großer, bedrohlich wirkender Ritter. Seine Rüstung ließ darauf schließen, dass er ziemlich muskulös und kräftig war und unterschied sich erheblich von den anderen Rittern, die hinter ihm ihre Schwerter zogen. Sie war golden und verziert mit weißen Plättchen, die durch gleichfarbige Verschnörkelungen verbunden waren. An den Schulterplatten war ein türkis-grüner Umhang befestigt, welcher diesen Mann besonders, auffallend und ehrenhaft wirken ließ. Seine Haare hatten einen seltsamen Schnitt, sahen aus, wie drei aufgehängte Dreiecke und waren an den Seiten und am Hinterkopf zu sehen. Seine Haarfarbe war dunkelbraun mit Strähnchen, bestehend aus verschiedenen Grüntönen. Die Spitzen weiß gefärbt, mit Ausnahme eines gleichfarbigen Haarteils, welches sein rechtes Auge zur Hälfte verdeckte. Die Augen des Ritters waren hellbraun, nahezu orange und nur die linke Pupille darin war schwarz. Auf der rechten Seite war sie weiß. Sein Blick war leer, doch gleichzeitig weise und bestimmend. Das Gesicht des Mannes war von Narben geprägt und zeigte kein Schuldgefühl, den Jungen umgeworfen zu haben.

Der Ritter starrte Cheyenne direkt in die Augen und kniff die seinen zu beängstigenden Schlitzen zusammen. Er wandte seinen Blick von dem Mädchen ab und betrachtete den am Boden liegenden Xaver. Ohne ein Wort zu sagen, zog der furchteinflößende Mann sein mächtiges, wasserblaues Schwert und zeigte damit auf den Jungen. Er rümpfte die Nase und berührte Cheyennes Freund mit der scharfen Klinge am Hals. Dieser biss die Zähne zusammen und hielt mutig, aber gleichzeitig verängstigt und verstört, dem Blick des Ritters stand.

Cheyenne war, ebenso wie ihre Großeltern, entsetzt, unfähig etwas zu tun und sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Mit Leichtigkeit könnte der Mann in Rüstung ihren Kindheitsfreund nun töten. Sie wollte etwas unternehmen, um ihm zu helfen, wagte aber nicht auch nur eine Bewegung zu machen. Sie war sich sicher, dass wenn sie den Versuch anstellte, Xaver zu helfen, der Ritter nicht lang fackelte und den Jungen mit seinem Schwert durchbohren würde. Sie war machtlos und musste abwarten, was passierte.

Entgegen aller Erwartungen jedoch, ließ der Ritter von dem Jungen ab und bedeutete ihm mit seiner blauen Klinge, dessen inneres Metall sich wie Wasser zu bewegen schien, aufzustehen und sich zu Cheyenne zu begeben. Xaver tat, was der mächtige Mann ihm befahl, sprang auf und stolperte zu seiner Freundin. Schützend stellte er sich seitlich vor das Mädchen, als der Ritter in der goldenen Rüstung einige Schritte auf sie zuging und seiner Truppe, bestehend aus sechs weiteren Rittern, befahl, die zwei Freunde und die Großeltern zu umstellen. Cheyennes Großvater wurde wütend. „Was um alles in der Welt soll das hier werden? Habt ihr uns denn nicht schon genug leiden lassen? Wer seid Ihr überhaupt?“ Allerdings erhielt er nur verspottendes Gelächter der normalen Ritter, anstatt einer Antwort des Mannes in goldener Rüstung. All dies schien jenen in keiner Weise zu interessieren.

Der goldene Ritter stand zwei Meter vor den Freunden und starrte wie gebannt auf den schwarzen Kristall des Mädchens, das es um den Hals trug. Cheyenne bemerkte dies und verdeckte das funkelnde Objekt mit den Händen und wich eingeschüchtert einen Schritt zurück. Der Mann schloss kurz die Augen, dann grinste er und beschloss endlich etwas zu sagen. Seine Stimme war herrisch, kräftig und bestimmend. „Dummes Mädchen, haha. Trägst deinen Kristall wohl wirklich ständig mit dir herum, was? Wie unvorsichtig. Was, wenn er dir abhandenkommen würde?“ Er machte eine kurze Pause und lachte ein fieses, unheimliches Lachen, ehe er wieder grinste und sich erneut Cheyenne zuwandte. Er schien zu bemerken, dass das Mädchen nicht verstand, warum er über ihren Kristall redete. „Hmpf. Entweder du bist sehr schwer von Begriff, oder … haha, sie haben es dir noch nicht gesagt. Was für eine Schande.“ Bevor der Ritter weitersprechen konnte, mischte sich der Großvater erneut ein. „Lasst sie bloß in Ruhe!“ Wieder lachte der Mann in goldener Rüstung und hob seine Hand. Zwei der umstehenden Ritter bewegten sich auf den alten Mann zu und hielten ihn fest, grob zogen sie ihn von seiner Frau weg und er stöhnte mit schmerz verzerrendem Gesicht auf, als ihm einer der beiden Männer in Metall auf den Fuß trat. Cheyennes Großmutter schluchzte, als sie ihren geliebten Mann so leiden sah. Ihre Enkelin war jedoch starr, wusste nicht mit der Situation umzugehen. Es war alles zu viel. Das Gerede des großen Ritters, die Leiden der Großeltern. Sie war verwirrt.

Ohne den alten Mann zu beachten, sprach der Ritter weiter. „Nun ja, zumindest bist du schön in unsere Falle getappt. Deine Großeltern haben sich auch wirklich als wunderbarer Köder erwiesen. Haha. Deine Liebe zu ihnen ist wirklich hinreißend. Es war klar, dass du versuchen würdest sie zu retten, also haben wir sie einfach hierherbringen lassen und gewartet bis du aufkreuzt. Hattest du keine Bedenken, dass du ohne Schwierigkeiten den Forschungskomplex erreichen konntest, ohne entdeckt zu werden? Haha. Wir haben dafür gesorgt, dass niemand euren Weg kreuzt. Die ganze Zeit konnten wir vom Kontrollraum aus eure Position ausmachen. Hat keiner von euch beiden die Überwachungskameras bemerkt? Oh, stimmt ja. In eurem Elendsviertel kennt man so etwas vermutlich gar nicht.“ Er machte eine kurze Pause um zu lachen. „Und kam es dir nicht seltsam vor, dass der Forscher genau die Daten deiner lieben Großeltern ausgerufen hat? Ich hatte mehr von … dir erwartet. Mehr als nur ein dummes naives Mädchen.“ Cheyenne blickte betreten zu Boden. Nun kam es ihr auch seltsam vor, dass sie keine Schwierigkeiten hatten, das alte Ehepaar zu finden. Ihr Großvater war empört und konnte seine Wut nicht mehr zurückhalten. „Was fällt euch ein uns als Köder für Cheyenne zu verwenden?! Ihr seid ein herzloser Schuft! Ein elender Mistkerl! Ein –“ Weiter kam er nicht mehr. Der goldene Ritter hob erneut die Hand und bewegte die Finger. Ein verhängnisvolles Zeichen, dass einen grausamen Befehl auslöste.

Einer der beiden Ritter stellte sich vor den alten Mann, zog grinsend sein Schwert und rammte es mit voller Wucht in die Brust des alten Mannes. Die Klinge durchbohrte den gesamten Oberkörper und kam bluttriefend am Rücken wieder zum Vorschein. Der rote Saft des Lebens befleckte die Rüstung beider Ritter und sie genossen lachend das qualvolle Stöhnen und Schreien ihres wehrlosen Opfers. Die vier restlichen Männer in Rüstung fingen ebenfalls hemmungslos an zu lachen und man hörte den mächtigen Mann in Gold, die Augen geschlossen, flüstern. „Ich habe keine Zeit für eure undankbaren Beschimpfungen…“

Cheyennes Herz blieb für einen kurzen Augenblick stehen. Ihre Ohren schmerzten von den Todesschreien ihres sterbenden Großvaters. Dann verstummte er auf ewig und sank in sich zusammen, bis er regungslos auf dem nassen, kalten Boden lag. Sein Blut tränkte nun gemeinsam mit dem unerbittlichen Regen die Erde. Das Mädchen war unfähig sich zu bewegen. Sie war so geschockt, dass sie nicht einmal weinen konnte. Ruckartig atmete sie und starrte auf den toten Körper ihres geliebten Großvaters, aus dem sein Mörder gerade sein Schwert zog und es erneut in das Fleisch des alten Mannes bohrte. Cheyenne fühlte nichts mehr, außer einem kribbelnden Gefühl. Es war bedrückend und löschte all ihre Gedanken und sonstigen Gefühle. Dann war es, als würde man ihr ebenfalls ein Messer in die Brust rammen, direkt ins Herz. Vor Schmerz zuckte sie zusammen und stöhnte kurz und leise. Das Gelächter der Ritter konnte sie nicht mehr vernehmen, alles verstummte. Mit leerem Blick sah sie zu wie die Ritter nacheinander den alten Mann traten und ihm für seine Beleidigungen die letzte Würde raubten. Den Rest der Umgebung nahm das Mädchen nicht mehr wahr.

Plötzlich zog ihre Großmutter, die sich an Cheyenne festhielt, sie nach unten und sank zu Boden. Cheyenne wurde bewusst, dass ihre Großmutter nicht mehr mitbekam, was die Ritter mit ihrem einstigen Geliebten machten. Immer noch geschockt, aber in Sorge um das einzig verbliebene Familienmitglied, kniete sich das Mädchen zu der zusammengesunkenen Großmutter. Ihr Zustand schien sich sehr verschlechtert zu haben, aber es lag nicht nur daran, dass sie soeben ihren Mann hatte sterben sehen. Cheyenne wollte fragen was los war, fand aber nicht die Worte und brachte es nicht zustande überhaupt irgendetwas zu sagen. Sie sah, dass aus dem Mund ihrer Großmutter Blut tropfte und es wurde stetig mehr. Großmutter! Was ist mit dir?  Aber sie musste die Frage nicht stellen und auch keine Antwort mehr hören, um zu wissen, dass dies die letzten Atemzüge ihrer über alles geliebten Großmutter waren. Auch sie würde für immer fortgehen und zuvor noch leiden müssen. Die alte Dame stöhnte auf und gluckste, bevor sie leise einige Wörter stottern konnte. „Sind das die… Auswirkungen der… Flüssigkeit… die sie mir eingeflößt… haben…? … Chey-enne… Du… musst dich… in Si-sich-erheit bringen… Ich kann nicht mehr... bei dir sein… und ü-über d-dich wachen… Du… musst… leben… Du… b-bist der Welt… letzte… Hoffnung… geliebtes Kind…“ Die Großmutter hustete und spuckte viel Blut aus. Dann reckte sie und bekam keine Luft mehr. Sie gluckste erneut und dann rührte sie sich nicht mehr. Ihre Augen waren offengeblieben und leer. Nichts mehr war darin zu sehen. 

Cheyenne saß emotionslos und apathisch neben dem toten Körper. Sie hatte aufgehört zu weinen und fühlte nichts mehr. Rein gar nichts. Weder Seelenschmerz noch Kälte, noch Angst, einfach rein gar nichts. Die Welt schien stehen geblieben zu sein. Alles war wie in Zeitlupe. Ihr leerer Blick wanderte umher, alles war so langsam, als würde es jeden Moment einfrieren. Sie hörte nur noch, wie sie innerlich schrie. Dann blieb ihr Blick an dem Mann in goldener Rüstung haften. Sie glaubte eine Spur von Trauer in seinen Augen zu erkennen und Mitleid. Aber das war sicher nur Einbildung.

Die Ritter waren immer noch mit ihrem Gelächter beschäftigt und Xaver nutzte die Gelegenheit, um Cheyenne auf die Beine zu ziehen. Wenn es eine Möglichkeit zur Flucht aus dieser ausweglosen Situation gab, dann wäre sie jetzt, wo alle Ritter noch abgelenkt waren. Doch Cheyenne stolperte kraftlos über ihre Füße und fiel erneut zu Boden. „Komm schon, Cheyenne, reiß dich zusammen, wir müssen hier weg!“ Der Junge zog sie wieder hoch und hielt sie fest, starrte in ihre leeren Augen.

„Ihr geht nirgendwo hin!“ Der goldene Ritter ballte seine Hände zu Fäusten und wandte sich dann seiner Truppe zu. „Ihr nichtsnutzigen Würmer habt eine wichtigere Aufgabe, als euch totzulachen! Bringt mir dieses verdammte Mädchen oder tötet sie und beschafft mir den Kristall!“ Er wies seine Männer zurecht und alle kamen auf die zwei Freunde zu. Xaver zog sein Schwert. „Das war’s dann wohl…“

Doch bevor die Klingen aufeinandertrafen, kam Adocaz über das Metallgitter in das Gehege gesprungen und bellte so laut, dass eine gigantische Schallwelle in Richtung der Ritter ging und diese zum Sturz nach hinten brachte. „Adocaz! … Perfektes Timing.“ Xaver war erleichtert, dass der Feenwolf aufgetaucht war. Der Junge nahm Cheyenne, die mittlerweile ihr Gleichgewicht gefunden, aber immer noch verstört war, an der Hand und eilte mit ihr zum Ende des Geheges. „Adocaz, zerstör diesen Zaun, damit wir hinauskönnen!“ Xaver gab dem silbernen Vierbeiner den Befehl und unmittelbar darauf, pfiff er durch die Finger, um die Pferde zu rufen. Der Feenwolf sammelte indessen seine innere Kraft vor seinem geöffneten Maul und als sie stark genug war, entfesselte er sie in einem magischen türkis-leuchtenden Strahl. Im Nu war ein riesiges Loch in den Zaun geschmolzen und die drei liefen nach draußen, wo die Pferde gerade auf einer Anhöhe ankamen und nervös tänzelten. So schnell er konnte zerrte Xaver Cheyenne auf den Hügel, schubste sie auf Falconheart und gab dem Pferd einen Klaps, der es zum Loslaufen brachte. Seine Freundin war immer noch apathisch und hatte gerade noch genügend Kraft sich im Sattel zu halten, auch wenn sie mehr auf dem Hals des Pferdes lehnte, als zu sitzen. Auch der Junge schwang sich auf Shiva und ritt dem Mädchen hinterher, gefolgt von Adocaz.

Der Wind schien Cheyenne langsam aufzuwecken und sie raffte sich im Sattel auf. Offenbar waren die Freunde in einen Wald geritten. Von hinter bei kamen Geräusche. „Verdammt, sie verfolgen uns!“ Xaver ritt neben Cheyenne her und blickte nach hinten. Dann schien er nachzudenken und schließlich eine Idee zu haben. „Cheyenne, wir trennen uns hier! Gib mir deinen Kristall!“ Verdutzt sah sie sich ihren Kettenanhänger an. „Warum…“ Mehr als ein hauchendes Flüstern brachte sie nicht zustande. „Wir schütteln sie leichter ab, wenn wir uns aufteilen. Sie teilen sich nur auf, wenn du mir deinen Kristall gibst! Sie sind nicht nur hinter dir, sondern auch hinter deinem Kristall her! Also gib ihn mir!“ Xavers Stimme zitterte vor Aufregung und Beunruhigung. Noch nie hatte Cheyenne ihn so erlebt, wie zu diesem Zeitpunkt. Die Bäume flogen an ihnen vorbei, aber Cheyenne fand an dem Plan ihres Freundes keinen Gefallen. Er ist der einzige, den ich noch hab… ich will nicht, dass er auch weggeht…

 

Dann ritt Xaver näher an Cheyenne heran und riss ihr die Kette vom Hals. Das Mädchen verlor fast das Gleichgewicht und wäre vom Pferd gestürzt. „Was tust du?!“ Aber ihr Freund antwortete nicht, ritt von ihr weg, hielt den Kristall in die Höhe und schrie laut, dass er jetzt das Objekt der Begierde hätte. Obwohl es dunkel war, schienen die Ritter etwas zu sehen, aber Cheyenne war egal, wie sie sehen konnten, sie war einfach nur noch verzweifelt. Xaver entfernte sich immer weiter von ihr, doch dann rief er ihr noch etwas zu. „Wir treffen uns in ein paar Tagen im Dorf Saraley, ich warte dort auf dich!“ Dann war er hinter den Bäumen verschwunden. Cheyenne hörte, wie die Ritter hinter ihr, sich wie geplant berieten und sich dann aufteilten. Drei verfolgten Xaver und die anderen drei jagten hinter ihr her. Verzweifelt weinend ritt das Mädchen durch den nächtlichen Wald.

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